Diamondpaper #4
Thomas Schütte
Quengelware 2002.
Ein Tagebuch mit 104 Radierungen.
8 Seiten
33.5 × 47.5 cm
kuratiert von Karsten Heller, Thomas Scheibitz
DIAMONDPAPER#04 erscheint anlässlich der Ausstellung von Thomas Schütte in der Galerie Rüdiger Schöttle, München (05. September – 25. Oktober 2003). Thomas Schütte präsentiert in der vierten Ausgabe von DIAMONDPAPER seinen Quengelware-Zyklus. Erstmals zeigte er diese Radierungsfolge komplett in seiner Einzelausstellung im Kunstmuseum Winterthur (7. Juni – 24. August 2003). Mit DIAMONDPAPER#04 liegt nun die erste vollständige Publikation der Motive vor. Der 1954 geborene Künstler wandte sich bereits in einer Zeit, die noch durch die minimalistische Skulptur eines Richard Serra oder Carl Andre geprägt war, wieder dem Realismus zu.
Der ursprünglich als »Modellbauer« bekannt gewordene Bildhauer Thomas Schütte traute sich darüber hinaus, die menschliche Figur wieder auf die Bühne der zeitgenössischen Kunst zu holen. Neben seinen architektonischen Skulpturen und figurativen Plastiken hat Thomas Schütte immer auch Arbeiten auf Papier angefertigt. Ebenso wie das bildhauerische Werk sind diese Papier-arbeiten von einem spezifischen, oft auf die aktuelle politische Lage rekurrierenden Humor geprägt. Es sind Bekenntnisse von höchst privater Natur, die Thomas Schütte notizengleich tagtäglich anfertigt: Der Untertitel »Ein Tagebuch mit 104 Radierungen« ist also durchaus im Wortsinne zu verstehen.
Eine Besonderheit besteht darin, dass der Künstler die leichte farbliche Abweichung von Druckblättern bei Radierungen in der Quengelware-Serie zum Prinzip erhoben hat: Die jeweiligen Platten erhalten bei jedem Druck eine neue Farbgebung, deren Bestimmung Thomas Schütte den Druckern überlassen hat. Entstanden sind so je 35 »Originale« eines Motivs. Für DIAMONDPAPER#04 hat Schütte seine Lieblings-Blätter in Werkgruppen arrangiert und in eine Reihenfolge gebracht, die die Kompositionsprinzipien seiner Ausstellungs-hängungen einen Remix unterziehen.
Thomas Schütte: Quengelware 2002
Ein Tagebuch mit 104 Radierungen
Anna-Catharina Gebbers »Wenn ein Fremder einen Bekannten hat, so kann ihm dieser Bekannte zuerst fremd gewesen sein, aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd. Wenn aber die zwei mitsammen in eine fremde Stadt reisen, so sind diese beiden Bekannten jetzt in der fremden Stadt wieder Fremde geworden. Die beiden sind also – das ist zwar paradox – fremde Bekannte zueinander geworden« so Karl Valentin in seinem Dialog Die Fremden.
Rätselhafte Geschöpfe stehen auf dem Kaufhausvordach in Kassel, dem Portikus des ehemaligen Roten Palais, verwirren, bringen zum Schmunzeln: Die Fremden (1992) hat Thomas Schütte anlässlich der Documenta 1992 hier installiert. Obwohl die Skulpturengruppe sowohl politische Fragen aufwirft etwa zu Migration, Flucht und sozialer Isolation als auch kunstimmanente Probleme wie etwa die Sockelthematik – das initiale Lachen bei der Erstbegegnung ist von Schütte durchaus intendiert, denn es löst eine über bloße andächtige Bewunderung hinausgehende Auseinander-setzung aus: Dialog und Hinterfragen statt Kunstkonsum. Werden die Arbeiten durch das Publikum nicht hinterfragt, so wird ihre potentiell kritische Stoßkraft nicht wahr-genommen. Schütte stellt ein unter Umständen apathisches Kunstpublikum auf die Probe: Wieviel Austausch ist noch möglich? Nimmt das Publikum die Kräfte überhaupt noch wahr, die unser Verstehen, unser Begehren und unsere Begeisterung anregen?
Wie bei Karl Valentin ist Thomas Schüttes künstlerisches Arbeiten ein genauestes Hinsehen bis hin zur Sinnzersetzung. Und wie Valentin zieht Schütte ein kräftiges »Nein« einem allzu treuherzigen Folgen vor: »Ich bin immer gegen etwas. Es ist schade, aber ich kann mich nicht wohl fühlen. Diese Spannung scheint eine Art Motor in meinem Leben und in meiner Arbeit zu sein« hat Schütte einmal in einem Interview gesagt . Die Ablehnung, das Widerständige und das Paradoxe interessieren Schütte – mit ihrer Hilfe legt er elementare Situationen der Kommunikation, des künstlerischen Produzierens, der Wahrnehmung und der Erkenntnis frei. Ludwig Wittgenstein betrachtete die Arbeit des Philosophierens ähnlich: »Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen der Sprache geholt hat«.
Thomas Schütte ist tatsächlich ein sprachphilosophisch agierender Forscher. Mit Quine’scher Logik hinterfragt Schütte scheinbar unverbrüchliche Bedeutungszusammenhänge wie etwa die Logik der Avantgarden, die Regeln der Kunst und ihrer Moden, aber auch die tradierten Gesetzmäßigkeiten von Maßstäblichkeit und Materialität, Sockel und Inszenierung. Willard Van Orman Quine, der amerikanische Sprachphilosoph und Übersetzungstheoretiker, griff die traditionelle Theorie der Bedeutung an und räumte sinnlichen Reizen ein stärkeres Gewicht ein: Entscheidender für den Spracherwerb sei die Verbindung mit sinnlicher Erfahrung, Bedeutung könne empirisch gar nicht festgelegt werden und so etwas wie Bedeutungstatsachen gäbe es nicht. Was bleibt also? Ständiges Weiterfragen. Und genau das macht Thomas Schütte. Sprache beschränkt sich dabei im Werk von Schütte nicht nurauf die von ihm verfassten literarischen Texte und Geschichten: »Die Dinge, über die man nicht reden kann – die sind wichtig. Einige Antworten kann man nicht geben. Ich glaube, dass Material, Form und Farbe ihre eigene Sprache haben, die nicht übersetzt werden kann. Direkte Erfahrung berührt mich sehr viel mehr als Media, Images, Photographien usf. Körper und Seele, Raum und Licht – darum geht’s, das ist spannend«.
Valentin, Wittgenstein, Quine – das Aufweisen von Sinngrenzen spielt bei jenen wie bei Schütte eine zentrale Rolle. Und wie Valentin markiert Schütte derartige Sinngrenzen nicht einfach analytisch, sondern szenisch-komisch und gestisch. Wenn man schon nichts Sinnvolles mehr sagen kann, dann lässt sich zumindest von dieser Erkenntnis etwas zeigen: Vergleichbar den Valentin’schen Maskenstudien (Napoleon, Ludwig II von Bayern etc.) erprobt Schütte beispielsweise die komischen Möglichkeiten der Physiognomie (z.B. United Enemies (1993), Konferenz (2002) oder Dirty Dictators (2003)). Die Arbeiten sind grausam, entlarvend und doch zärtlich einfühlsame psychologische Studien, die durch sehr genaue Umwelt- und introspektive Beobachtung entstanden sind: »Liebe Dein Symptom wie Dich selbst« (Slavoj Zizek).
Auffallend ist, dass Thomas Schütte sich nie vom Sog aktueller Strömungen hat mitreißen lassen – im Gegenteil: Sein Werk zeichnet sich durch konsequente Missachtung der Do’s und Don’ts aus. Damit ist er Gerhard Richter ähnlich: Wie dieser schert er sich nicht um das Diktat von Tabus und wahrt stets eine intelligente Distanz zu zeitgeistig ephemeren Ideologien. Dennoch ist Thomas Schüttes Werk immer hochaktuell. Denn er unterzieht die Ozeane der medial produzierten Sinn-Kakophonie einem wohl rhythmisierten Tidehub. Schütte wagt es, im Brackwasser aus Pathos, Schmerz, Kitsch, Dekor, Schönheit, Sex, Farce, Tragödie, Parodie, Satire, Wahrhaftigkeit, schwarzem Humor und Groteske zu fischen und zu mantschen. Was er von seiner Wattwanderung mitbringt sind wundersame Preziosen, schillernd und häufig mit einem Unterton des Politischen versehen: »Ich mische mich in die Nichteinmischung mitten hinein!«, so Valentin: »Es ist an der Zeit, sich in den Nichteinmischungspakt hineinzumischen, um die Nichteinmischung zu demudizieren«.
Schüttes Arbeiten sind Forschungsreihen. Und diesen Tatbestand will der Künstler nicht verhehlen: Missglückte Versuche stehen hier gleichwertig neben Gelungenem, sind Bestandteil des Arbeitens und der Arbeit. Auch dies ein Zeichen der Grund-Annahme einer prinzipiellen Unabschließbarkeit allen Forschens, Fragens und Denkens. Dabei ist er sich ebenfalls mit den genannten Sprachdenkern einig: Er will Bedeutungen situativ entstehen lassen und nicht normativ festlegen. Sicher ist eigentlich nur die Aporie. Jede Situation ist wieder ein neues Rätsel, dem es auf den Grund zu gehen gilt. Schütte studierte in den Düsseldorfer Klassen von Fritz Schwegler und Gerhard Richter. Vor allem die Richter-Klasse war geprägt durch das Abarbeiten an den grundlegenden Fragen, was man, wie und warum machen könne und sollte. Bernd und Hilla Becher unterrichteten zur selben Zeit an der Akademie in Düsseldorf. Man kann davon ausgehen, dass Schütte ebenfalls über profunde Kenntnisse konzeptueller Kunst verfügt. Theorien? Dogmen? Moden? Zeitdiktat? Klassik? Tradition? Thomas Schütte zuckt mit den Schultern: »Ich weiss auch nicht – müde Mythen« und enttarnt die Macht der Gewohnheit. Valentin beschied ganz wittgensteinisch: »Man sagt halt so«. Jeder Anflug von tradierter Größe wird unterlaufen. Schütte bricht mit »Alten Mustern« und hält sich nicht an die Regeln der Zunft. Sein Einsatz grafischer Techniken ist ungebührlich: Er zeigt Schmutzdrucke, Verdrucke und lässt die Drucker selbst die Farbigkeit der Drucke bestimmen. Statt klassisch zu bildhauern, knetet er mit Ton und Fimo. Und dann greift er wieder zu Techniken und Themen, die die Moderne als erledigt beiseite gelegt hat und befragt sie auf ein Neues: den weiblichen Akt in Bronze und Stahl oder etwa die Radierung. Er zitiert die Tradition, dekonstruiert und destruiert sie, übertreibt sie ins Groteske, findet das Unbekannte, das Fremde in ihr, dokumentiert ihren Verlust und ihre Zurückgewinnung.
Obwohl Thomas Schütte vor allem als Bildhauer und »Modellbauer« bekannt geworden ist, hat es auch immer Arbeiten auf Papier gegeben. Die Zeichnungen und Radierungen entstehen in loser Folge wie Tagebuch-Eintragungen. Subjektive Erfahrung und biografischer Bezug, der in den neueren Architekturmodellen von Schütte fehlt, spiegeln sich in den Papierarbeiten nach wie vor und ungebremst wider. Schütte verbrachte während seines Studiums viel Zeit in der Klasse für Bühnenbild. Und so waren bereits die Skulpturen über ihre Genre-Spezifik hinausgehend stets auch Bühnendekor oder Filmset und vor allem Satire, Fiktion und literarische Schilderung. Thomas Schütte hat einen untrüglichen Sinn für groteske Inszenierungen der eigenartigen Mischung, die seinen Alltag ausmacht und die von der unermüdlichen Suche nach dem fiktiven Sinn zeugt. Der Radierungszyklus »Quengelware« dokumentiert spontane, ungefiltert sinnlichen Reizen folgende Impulse bei dieser Sinnsuche – ein Griff nach dem vor Augen Liegenden. Als »Quengelware« werden nicht nur die Süßigkeiten bezeichnet, die im Supermarkt wohlweißlich auf Kinderaugen- Höhe platziert werden, sondern auch kleine Modelle, Skizzen, Papierarbeiten – des Galeristen liebste Ware, das Garnier für die schwerverkäufliche Skulptur: »Quengelware für den kleinen Hunger zwischen Durst«. Mit leichter Hand skizziert Thomas Schütte ironische Kommentare zum Kunstbetrieb (»Bordell«) und zu sozialen Beziehungen (»Wrong Boat«), Romantizismen (»Fucking clouds«), Songtexte (»Alles ist vergiftet«, Jan Delay aka Eisfeld) und Türschilder (»Bin bald fertig«), Verweise auf transatlantische Kreuzzüge (»terror/error«) oder Hinweise auf mögliche Parallelen von politischen und persönlichen Apokalypsen (»Hope is a lack of information«) und immer wieder Blumen und Selbstporträts. Die Blumen sind häufig die Blumen des Bösen, des Verlangens und nicht der Idylle – die Selbstporträts nicht die Geste des selbstgefälligen Schöpfergottes, sondern ein prüfender Blick morgens in den Spiegel: memento mori und carpe diem. Ganz klassisch und eben doch nicht. Denn: »Frägt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgend etwas, was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zu dem Fremden, das ist mir leider fremd, ich bin hier nämlich selbst fremd« (Valentin).